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Schriftwahl nach System

Webfonts ermöglichen, den Text auf einer Internetseite in einer individuellen Schriftart darzustellen. Das nutzen Gestalter:innen immer öfter, um auf Websites bereits durch die Typografie ein bestimmtes Erscheinungsbild zu vermitteln. Die geeignete Ladestrategie für Webfonts (engl.) stellt sicher, dass der Text trotzdem ohne merkliche Verzögerung auftaucht.

Doch wie vermutlich zu jedem Trend gibt es auch zu Webfonts eine Gegenbewegung. Statt eine individuelle Schrift zu wählen, soll ein Text so gewohnt und standardmäßig wie möglich aussehen. Sie versuchen, die gleiche Schrift zu wählen, die das Betriebssystem des Nutzers verwendet (zum Beispiel in Programm-Menüs, bei Systemmeldungen, im Datei-Manager etc.). So wirkt eine Website oder Web-Anwendung mehr wie ein lokal installiertes Programm.

Was ist die Systemschrift?

Und woher weiß ich, welche Schrift der Nutzerin in lokalen Programmen angezeigt wird? Nun, ich weiß es nicht, schließlich ist es in jedem Betriebssystem eine andere. Aber ich kann eine Reihenfolge typischer Systemschriften festlegen. Der Browser des Nutzers testet diese Liste durch. Er überspringt alle Schriften, die nicht installiert sind, und verwendet dann die erste Schrift, die bei der Nutzerin vorhanden ist. Wenn ich die Reihe vom Speziellen zum Allgemeinen sortiere, erwische ich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Systemschrift meines Nutzers. Eine verbreitete Schriftliste (“Sytem Font Stack”) ist:

font-family: -apple-system, BlinkMacSystemFont, "Segoe UI", Roboto, Oxygen, Ubuntu, Cantarell, "Helvetica Neue", sans-serif;

So oder ähnlich findet sich das in der Bedienoberfläche von Wordpress, im populären CSS-Frame­work Bootstrap, beim Reiseportal Booking.com oder auf der Website von GitHub. Überall dort verzichtet die Anbieterin auf typografische Eigenständigkeit, um dem Nutzer lieber die vertraute Schrift seines Betriebssystems vorzusetzen. Entsprechend unterschiedlich sieht der Text dann je nach System aus:

Verschiedene Systemschriften

Mal ist die Schrift ein wenig fetter, mal ein bisschen runder, vielleicht allgemein größer und die Buchstaben stehen enger zusammen oder weiter auseinander. Ganz wie es die Nutzerin von ihrem Betriebssystem kennt …? Nicht unbedingt.

Systemschrift garantiert?

Wer auf seinem Linux zum Beispiel Googles Schrift Roboto installiert hat, der bekommt diese angezeigt – und eben nicht die Standardschrift seines Betriebssystems. Apropos Roboto: Die wird von Google massiv als Erkennungszeichen genutzt, zum Beispiel auf YouTube, Google Maps oder in Google Mail. Möchte ich wirklich, dass meine Website von der Schrift her so aussieht wie ein Google-Produkt?

Auch wer bei seinem Betriebssystem die Schrift geändert hat (zum Beispiel seinen Mac lieber mit Fira Sans beschriftet), bekommt nicht die „native“ Systemschrift angezeigt. Das sollte in Zukunft aber der neue CSS-Wert system-ui; verhindern. Dieser Platzhalter steht immer für die Schrift, die das Betriebssystem tatsächlich verwendet. Damit würde der Nutzer wirklich genau die gewohnte Schrift sehen – womöglich ist das aber gar nicht, was der Designer beabsichtigt (engl.). Im Moment wird font-family: system-ui mittelgut unterstützt (je nach Nutzerschaft um die 70 bis 80 %), es funktioniert nicht im Firefox, Internet-Explorer und Microsoft Edge.

Man kann nicht nicht gestalten

Aber Moment! – und hier kommt der Meinungsteil dieses Blogartikels: Warum genau macht eigentlich jemand diese Verrenkungen? Warum die Schriftart des Systems nutzen? Um mir die Ladezeit einer Webschrift zu sparen? Dann könnte ich doch gleich eine bewusst ausgewählte websafe Schrift wählen, zum Beispiel Verdana, Arial, Georgia, Trebuchet oder Times New Roman. Die sind auf wirklich vielen Geräten installiert und werden dann angezeigt. Oder vielleicht, weil meine Website so aussehen soll wie ein installiertes Programm? Das könnte ich bei Web-Apps, also tatsächlichen Anwendungen noch verstehen – aber selbst hier kann man mit einer bewusst ausgewählten Schrift mehr erreichen.

Ich glaube, meistens wird dieser System Font Stack aus Unsicherheit und Feigheit gewählt. „Mmmh, wir brauchen was neutrales, das nicht stört oder unangenehm ist – nehmen wir doch die Schrift, die der Nutzer ständig sieht, die ist so natürlich und nativ.“ Nein, ist sie nicht. Alles ist Gestaltung, selbst wenn ich beschließe, etwas nicht besonders zu gestalten. Und wenn ich mir keine Gedanken darum mache und sicherheitshalber zu einem Standard-Design greife, dann habe ich meistens nicht die beste Lösung gefunden.

Was man mit System-Schriften dagegen in Kauf nimmt: Absätze brauchen unterschiedlich viel Platz, Text verschiebt sich, Zeilenabstände passen nicht optimal zur Schrift, Textgrößen sind nicht richtig aneinander angepasst, die eigens gestaltete Unterstreichung sitzt zu hoch und das allgemeine Schriftbild kann auf manchen Systemen eine unpassende Wirkung haben. Manchmal sind auch die gewünschten Strichstärken nicht vorhanden und werden vom Browser schlecht imitiert (z. B. haben nur San Francisco und Segoe eine halbfette Semibold). Wer gute Typografie machen möchte, ist mit einer einschätzbaren, zum Inhalt passenden Schrift besser bedient.

Der neue Standard?

Im Moment sind die Default-Schriften im Browser meistens Arial/Helvetica, Times (New Roman) und Courier (New). Sie erscheinen, wenn nur die generischen Schriftkategorien sans-serif, serif oder monospaced festgelegt werden. Vielleicht ändert sich das irgendwann und die Browserhersteller legen system-ui als Standard-Schrift fest (ohne Serifen). So stellt es sich Sindre Sorhus im Fehlerbericht zu seinem normalize.css (engl.) vor. Ich muss einräumen, dass das in den meisten Fällen eine Verbesserung wäre – aber halt nicht automatisch eine gute oder irgendwie „natürliche“ Gestaltung für einzelne Websites.

Ich behaupte nicht, dass eine Internetseite auf allen Geräten gleich aussehen muss; aber ich bin überzeugt, dass man bewusst gestalten sollte. Als scheinbar einfache Lösung verhindert der System Font Stack, sich tatsächlich mit einem angemessenen Design auseinanderzusetzen. Die Standardeinstellung kann ein möglicher Anfangspunkt einer Gestaltung sein, aber nur in seltensten Fällen auch deren Ende.

Noch zwei Lesetipps (englisch): Using UI System Fonts in Web Design und The New System Font Stack? – beide Artikel befürworten eher die Verwendung von Systemschriften.

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Rubrik(en):  #kritik  #methodik  #typografie 

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